… eine Reizwörtergeschichte von Ronja Anja Heim zu den 20 häufigsten Substantiven in Romanen
Wer meine Auftritte (bzw. den von SLP Texting) auf Facebook und Instagram verfolgt, der hat vielleicht schon mal die Beiträge aus der Kategorie „Unnützes Sprachwissen“ entdeckt. Als studierte Germanistin (mit Schwerpunkt auf Sprachwissenschaft) nehme ich immer gerne auf sprachliche Fakten Bezug, da sie ja auch nicht unerheblich für meinen Beruf als Texterin sind. Viele dieser Sprachfakten sind auch sehr unterhaltend. Vor einiger Zeit habe ich einen Post zum Thema „Die 20 häufigsten Substantive in Romanen“ (Quelle: Duden) veröffentlicht. Ronja Anja Heim hat diesen Post zum Anlass genommen, eine Geschichte zu schreiben, in denen all die vom Duden genannten Substantive vorkommen. Ihre Reizwörtergeschichte „Das Tagebuch“ werde ich Kapitel für Kapitel veröffentlichen. An dieser Stelle ein ganz liebes Dankeschön an Ronja, die sich die Zeit genommen hat, ihre Muße fließen zu lassen und ein Familiendrama, das sich langsam rund um ein Tagebuch aufbaut, zu Papier gebracht hat! Ich freue mich sehr über diesen Beitrag und veröffentliche ihn als Gastbeitrag im SLP Blog gerne.
Über Ronja Anja Heim
Ronja ist 1990 in Kulmbach geboren und lebt nun in Rugendorf. Sie arbeitet als
Wer mehr über Ronja wissen möchte:
Ihre Autorenseite: https://ronjaanjaheim.wixsite.com/lesen/leere-seite-1
Informationen über „Die Kulmbloggera“: www.diekulmbloggera.de
Das Tagebuch
von Ronja Anja Heim
Kapitel 1
Jede einzelne der Dielen knarrte unter Miris Schritten auf ihrem Weg zur Treppe. Sehr lange hatte die erwachsene Frau dieses Haus nun nicht mehr betreten. Es roch bereits, als stünde es schon seit einer Ewigkeit leer. Mit jeder erklommenen Stufe war ein dumpfes, hohles Geräusch zu hören.
Mimi stellte sich vor, wie unter den Stufen der Staub mit jedem ihrer Schritte aus den Fugen rieselte. An der Wand im Treppenhaus waren überall verfärbte Stellen zu erkennen. Hier hingen schon länger keine gerahmten Bilder mehr. Ihre Mutter hatte sie bereits vor vielen Jahren abgenommen und scheinbar nicht durch etwas anderes ersetzt. Im dunklen Flur des oberen Stockwerks angekommen, ertastete Miri den Lichtschalter. Die Stadt hatte den Strom noch nicht abgestellt.
Erleichtert und bedrückt zugleich sah die Frau in einen trostlosen Flur. Ein alter, grüner Teppich war das einzige Überbleibsel eines wohnlichen Ambientes. Hier stand einst eine alte, hölzerne Kommode mit einer biederen Vase darauf, in welcher ein Strauß Kunstblumen stand. An viel mehr erinnerte sich die nun Vollwaise jedoch nicht mehr. Zu viele schlechte Erinnerungen hatte sie verdrängt und somit wohl auch die wenigen lieblichen aus ihrem Kopf verbannt.
Die brünette Frau griff zu ihrer Rechten nach einem Stock. Rasch bekam sie die Luke zum Dachboden auf und zog sich die hölzerne Trittleiter herunter. Auf diesem wackeligen Gestell erklomm sie die letzten Stufen, welche sie bis unter das Dach führen sollten. Lange tastete Miri im Dunkeln umher, ehe sie die Schnur zu fassen bekam. Sie zog daran und auch diese alte Glühbirne war noch intakt. Ein spärliches Licht versuchte durch die dicke Staubschicht hindurch den modrigen Dachstuhl zu erhellen. Miri blies sich eine ihrer dunkelbraunen Locken aus dem Gesicht. Den leichten Teil hatte sie hinter sich gebracht. Sie betrat das Haus, welches sie sich schwor, niemals mehr zu betreten. Sie lief die Stufen nach oben, deren sich einprägendes Knarren sie nie wieder hören wollte und dennoch… Nun, nach eben jenen Erinnerungen zu kramen, welche sie so lange schon in ihrem tiefsten Inneren weggesperrt hatte, sollte ihre letzte Prüfung sein. Danach würde sie ihren Frieden finden und könnte sich voll und ganz auf ihr nun befreites Leben konzentrieren.
Auf allen vieren kroch sie unter dem Gebälk vorsichtig voran. Alte Zeitungen stapelten sich an den Seiten und bildeten einen schmalen Korridor, der Miri letztlich in einen kleinen Raum führte. Hier konnte sie sich, wenn auch nur gekrümmt, aufstellen und betätigte einen weiteren Lichtschalter. Schockiert schnellte die Hand der jungen Frau vor ihren eigenen Mund und erstickte in letzter Sekunde einen aufkommenden Schrei. Entsetzt sah sie sich um.
Die Wände waren nur zum Teil mit Brettern verkleidet. Der alte, schäbige Teppich, welcher in jungen Jahren bereits ausgedient hatte, wölbte sich an allen Ecken empor. Ein alter, senffarbener Sessel sowie ihr altes 90er Kinder- und Jugendbett holten Mimi in schließlich in die Vergangenheit zurück.
Kapitel 2
„Na komm schon, stell dich nicht so an!“ Schwester Susanne zog an Miris zierlichen Ärmchen. „Die meisten Kinder wären froh, wenn plötzlich ihre Mutter kommen und sie abholen würde“, sagte die betagte Dame verständnislos und versuchte das sich sträubende Kind durch die Tür zu bugsieren. Die Achtjährige Mirijam verstand sehr wohl, was da vor sich ging. Als ihr Vater vor drei Jahren starb, erklärte man der Kleinen, dass ihre Mutter sie nicht mehr wollte und nie wieder von einem Verwandten, oder Bekannten gesehen wurde. Man steckte Mirijam in ein Kinderheim, wo es lange dauerte, bis sie sich an ihre Umgebung gewöhnt hatte. Doch nun wollte man sie erneut einer vertrauten Wohnsituation entreißen.
„Aber ich will nicht zu dieser Frau, ich kenne sie doch gar nicht!“, protestierte die Kleine. Schwester Susanne fuhr herum und keifte das Mädchen mit dem Lockenkopf an: „Sie ist deine Mutter! Ihr werdet euch aneinander gewöhnen und damit ist jetzt Schluss mit dieser Diskussion!“ Mimi schwieg. Mit stummen Tränen in den Augen stieg sie damals in ein ihr fremdes Auto ein und sah ein letztes Mal auf das Kinderheim, ehe sie davon fuhren. Jedes Fenster und jedes daraus blickende Gesicht brannte sie in dem kindlichen Kopf damals ein.
Nach so vielen Jahren wieder in ihrem Kinderzimmer zu stehen, oder wohl eher einem Versuch von dem, was einem Kinderzimmer am nächsten kommen sollte, wühlte die heute gefestigte Frau erneut auf. Doch sie wusste, dass sie ihre Angelegenheiten hier und heute zu Ende bringen musste, um endlich ihren Frieden mit ihrer Vergangenheit schließen zu können.
Schon in einer Woche wollten die neuen Hausbesitzer einziehen. Eine nette, junge Familie suchte sich die ruhige Siedlung aus, um hier sesshaft zu werden. Mimi kam gut voran. Sie hatte einzig und alleine nur noch den Dachboden auf behaltenswerte Dinge zu überprüfen, ehe der Rest in den Sperrmüll wandern würde.
Robert war ihr in diesen Tagen eine wahre Stütze gewesen. „Soll ich auch wirklich nicht mit dir kommen? Ich kann mir ein paar Tage freinehmen, wenn du Hilfe brauchst.“ Doch Mirijam lehnte dankend ab. Sie würde sich sammeln, ehe sie nach Hause fuhr und alles wäre gut. So der Plan. Und gewiss hätte dieser auch funktioniert, wäre ihr nicht in diesem Moment eine staubige Tüte besonders aufgefallen. Unter einer der Schrägen des Dachbodens, zwischen vollgepackten Müllsäcken mit altem Krimskrams, lag sie. Eine verstaubte Einkaufstüte, durchlöchert und verdreckt. Doch sie beherbergte im Gegensatz zu all den anderen Beuteln nur eine Kleinigkeit. Gerade groß genug, um zwischen den anderen Säcken herauszustechen.
Mirijams Blick war wie gefesselt. Sie zupfte sich die Ärmel ihres grün-weiß-gestreiften Longsleeves hinauf und kroch auf Knien unter die Schräge und griff nach dem kleinen, verstaubten Etwas. Die Mutter zweier Kinder rümpfte die Nase und kniff die Augen zusammen. Der ganze Dreck wirbelte umher und setzte sich in ihren Locken fest, als sie die Tüte öffnete und hineingriff.
Kapitel 3
Ein lederner Einband schützte die vergilbten Seiten vor Schmutz und anderen äußeren Einflüssen. „Tagebuch von Dagmar Fleischer“, las Miri auf der ersten Seite laut vor, als sie das kleine Büchlein aufschlug. Das Papier fühlte sich rau und staubig an. Die Seiten waren leicht verfärbt. Sie erinnerten Mirijam an eines ihrer Schulprojekte, als sie mit dem Verfahren des Siebdrucks selbst Papier aus vielen Zeitungs- und Pappresten herzustellen versuchten.
Doch wer war Dagmar Fleischer? Und was hatte das Tagebuch dieser Frau hier auf dem Dachboden von Mirijams Elternhaus zu suchen? Ihre Mutter trug den Namen Liane Wolff. Und auch als Mirijams Vater starb und ihre Mutter sie im Alter von acht Jahren zu sich holte, hatte diese ihren Namen trotz des neuen Lebensgefährten an ihrer Seite behalten.
Neugierig geworden blätterte die junge Frau eine weitere Seite um. Ein eingeklebtes Familienfoto, mit ausgefransten Rändern und noch in Schwarz-Weiß blickte ihr entgegen. Die Menschen auf diesem Bild lachten nicht. Zu sehen war ein Ehepaar mit vielen Kindern, von groß bis klein, ein Schwein, das auf der Wiese im Garten stand, sowie ein provisorischer Holzzaun, der die Terrasse scheinbar abtrennen sollte. Miri erkannte niemanden auf dem Bild, doch in der Ecke stand mit einem Kugelschreiber auf dem weißen Rahmen um das Foto herum notiert „1953 – Besuch in Judenbach“. Mit ihrem Finger tastete Miri die Gesichter und ihre geraden Münder auf dem Foto ab. Selbst die Kinder schenkten dem Kameramann kein Lächeln. Das Bild löste keine freudige Stimmung in ihr aus. Sie wusste weder, wer diese Menschen waren, noch konnte Mirijam eine Verbindung zu diesem Jahr oder der angegebenen Ortschaft herstellen. Die junge Frau und selbst nun zweifacher Mutter fühlte sich beklommen beim Anblick dieser Aufnahme und blätterte rasch zur nächsten Seite um.
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24. März 1954
Seit meinem 13ten Geburtstag ist nichts mehr, wie es einmal war. Wenn er vorbeikommt, dann nicht mehr, um mit mir oder Lotti zu spielen. Meist sitzt er nur noch auf der Eckbank, trinkt Mutters Kaffee und starrt mich einfach an. Als ich Mutter fragte, was mit ihm sei, bekam ich eine ordentliche Schelle und sie schickte mich auf mein Zimmer. Ich sollte für den Rest des Tages dort bleiben und das, obwohl das Wetter draußen so herrlich war und all meine Freundinnen auf der Straße spielten.
27. März 1954
Tante Trude kam vorbei. Nach dem Gottesdienst lud Vater sie ein. Stolz erzählte ich ihr, dass ich bereits mit dem Schreiben meines Tagebuchs begonnen hatte. Es war das schönste Geschenk zu meinem 13ten Geburtstag. Doch auch dieser Satz missfiel Mutter sehr. Es tat mir sehr leid, sie verärgert zu haben, doch ich weiß noch immer nicht, womit ich mir dieses Mal ihren Zorn einhandelte.Vater sah mich liebevoll an, als sie mich erneut an einem schönen Tag auf mein Zimmer schickte.
4. April 1954
Der Schneesturm machte all unsere Pläne zunichte. Wir wollten heute mit den ersten Gartenarbeiten in Mutters neuem Beet beginnen. Doch stattdessen holte Vater noch einmal etwas Holz und schürte den Ofen an. Er war auch wieder gekommen. Mit Lotti spielte er den ganzen Nachmittag, doch als ich die Küche betrat, sah er mich erneut nur schweigend an. Mutter fand dieses Mal keinen Grund mich zu schimpfen. Ich ging von selbst auf mein Zimmer.
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Mirijam schloss das Tagebuch und betrachtete es sich noch einmal ganz genau. Sie drehte und wendete es. Doch der lederne Einband gab nichts preis. Wer war Dagmar Fleischer? Und warum hatte ihre Mutter das Tagebuch dieser fremden Frau auf dem Dachboden nach Mirijams Auszug gehortet?